17.12.2002
Wie die int. Bergwacht mitteilte, erlagen mehrere Bergsteiger auf ihrem Weg zum Wirtschaftsgipfel einem Herzversagen. Ärzte führen die Herzattacken auf Fehleinschätzung des gesellschaftlichen Klimas, maßlose Selbstüberschätzung
und falschen Ehrgeiz zurück. Die Bergsteiger – allesamt mit langjähriger Erfahrung – wollten den Gipfel in möglichst kurzer Zeit erreichen. Dabei achteten sie weder auf körperliche Signale noch auf die leisen Anzeichen eines einsetzenden Witterungsumschwungs. Einer der Bergsteiger konnte noch gerettet werden. Auf die Frage, weshalb er und seine Kollegen in so unverantwortlicher Weise gehandelt hatten, gab er zur Auskunft: „ Jeder von uns wollte der Erste sein und von ganz oben auf die anderen herabsehen!“.
Über die Folgen falschen Ehrgeizes im Bergsport sprach Bald mit dem weltbekannten Alpinexperten Reinhold Gipfelstürmer:
Bald:
Herr Gipfelstürmer, was ist Ihrer Meinung nach falsch gelaufen bei der Seilschaft am Wirtschaftsgipfel?
RG:
Wie schon die Ärzte vermuteten: Fehleinschätzung, Selbstüberschätzung, falscher Ehrgeiz.
Bald:
Aber es handelte sich doch durchweg um Bergsteiger mit langjähriger Erfahrung.
RG:
Da scheint mir auch der Hund begraben. Gerade wenn man glaubt, mit allen Wassern gewaschen zu sein, kommt von irgendwoher unverhofft eine kalte Dusche …
Bald:
… oder eine Herzattacke!
RG:
Richtig! Auch ein Profi-Bergsteiger sollte nicht vergessen: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Es bringt überhaupt nichts, sich gnadenlos voranzutreiben und dabei die körperlichen Warnsignale zu missachten. Das muss früher oder später zu einem Kollaps führen. Außerdem sollte man auch nicht außer Acht lassen: Eine Seilschaft ist immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied!
Bald:
Was empfehlen Sie Bergsteigern am Wirtschaftsgipfel?
RG:
Gerade der Wirtschaftsgipfel birgt viele Gefahren. Nicht so sehr, weil der Berg an sich schwierig wäre, sondern wegen des Mythos’, der ihn umgibt. Viele glauben, seine Spitze sei aus purem Gold.
Bald:
Ist sie es nicht?
RG:
Das ist nicht so ganz klar. Die meisten sehen ja die Spitze nur vom Fuße des Berges. Da kann man freilich nicht so genau sagen, was da oben so golden leuchtet. Die Abendsonne oder nur die eigenen Augen angesichts eines vermeintlichen Berges aus purem Gold.
Bald:
Um noch einmal auf meine Frage zurückzukommen:
Was empfehlen Sie Bergsteigern am Wirtschaftsgipfel?
RG:
Im Grunde das gleiche, wie Bergsteigern an anderen Gipfeln auch. „Gehen Sie langsam! Schritt für Schritt! Achten Sie darauf, was Sie Ihrem Körper zumuten können! Beachten Sie das gesellschaftliche Klima! Vorsicht vor Nebel – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Kopfes! Legen Sie Ruhe- und Entspannungspausen ein …
Bald:
Das ist ein gutes Stichwort, wenn ich mal unterbrechen darf, aber glauben Sie, eine Entspannungspause hätte das Unglück verhindern können?
RG:
Dessen bin ich mir absolut sicher. Sie kennen das ja: 7 Mitglieder der Seilschaft fallen vor Erschöpfung um, 3 Ehrgeizlinge treiben weiterhin zu Höchstleistungen an. „Mit Deutschland muss es wieder aufwärts gehen! Wählen Sie Edmund Steiger zum Führer der Seilschaft!“ Dies sind bekannte Parolen, die man in diesem Zusammenhang immer wieder hört.
Bald:
Das kommt mir irgendwie bekannt vor.
RG:
Mir auch. Sehen Sie … Was ist denn daran so schlimm, sich eine Entspannungspause zu gönnen? Man schöpft wieder neue Kräfte – sowohl physisch als auch mental, man hat die Möglichkeit zu einer Neuorientierung, kann den eingeschlagenen Weg noch einmal überdenken und – was nicht zu unterschätzen ist – man kann die herrliche Aussicht genießen auf das, was man bisher geschafft hat.
Bald:
Eine Änderung der Perspektive?
RG:
Ja, richtig! Wenn man ständig nur den Weg vor Augen hat und bergaufwärts blickt, kriegt man Scheuklappen. Man stöhnt dann innerlich, „oje, so viel haben wir noch vor uns“, statt zu sagen, „toll, so viel haben wir schon geschafft“. Übrigens – auch ein kleines Nickerchen während der Rast wirkt wahre Wunder. Süße Träume sind Balsam für die Seele, solange Sie nicht zum Schlafwandler werden und in einen Abgrund stürzen.
Bald:
Spielen Sie damit auf die Titelstory des FOCUS’ 45/02 an?
RG:
Genau! Man muss immer darauf achten, wo und wie man träumt, sonst gibt es ein böses Erwachen. Übrigens – gegen das Schlafwandeln sind selbst knallharte Realisten nicht gefeit, wie zwei der drei Schlafwandler-Experten aus besagtem FOCUS-Artikel beweisen.
Bald:
Wie meinen Sie das?
RG:
Nun, wer weiß denn schon so genau, was wirklich real ist? Der Traum eines sog. Realisten oder die Realität eines sog. Träumers?
Bald:
... oder die Realität eines Realisten oder der Traum eines Träumers!
RG:
Ja, genau!
Bald:
Danke für das Gespräch!
RG:
Bitte!